Klaban SWITZERLAND
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Christian Adams fühlte sich ein bisschen kaputt am Abend des 10. September. Der Vizegeschäftsführer des Deutschen Wein-Instituts aus Biebelsheim

in der Pfalz kam von einer Präsentation in New York. Bis gegen 19 Uhr an diesem Tag hatte er amerikanischen Händlern deutschen Wein angepriesen.

Der 37-Jährige war kein grosser Redner. Aber ein exzellenter Fachmann.

So hatte ihn Carol Sullivan, USA-Repräsentantin des Instituts, während ihrer zwölfjährigen Zusammenarbeit erlebt. Am Abend des 10. September sass

sie ihm gegenüber in der Cafeteria des Airport Marriott Hotels am Flughafen von Newark. Sie sprachen über die bevorstehende Weinmesse in

San Francisco, zu der sie am nächsten Morgen fliegen wollten. Adams hätte den Termin nicht unbedingt wahrnehmen müssen. Aber er freute sich auf

ein Wiedersehen mit seinem Bruder, der in Kalifornien lebte. Die Flasche Wein, die sie zum Abschluss des anstrengenden Tages trinken wollten, blieb

ungeöffnet. Christian Adams und Carol Sullivan gingen gegen 22 Uhr in ihre Zimmer.

Groteskes Ambiente

Die Zimmer des Airport Marriott Hotels sind teuer und haben das Flair des besserverdienenden Amerikas. Dunkles Holzfurnier mit Messingbe-

schlägen, schwere rote Vorhänge, goldfarbene Stilleuchten. An den Wänden Farbdrucke von ländlicher Idylle. Ein groteskes Ambiente für das Ritual,

dem sich ein paar Zimmer weiter an diesem Abend vier arabische Studenten unterzogen: Ziad Jarrah, Ahmed Al-Haznawi, Saeed Al-Ghamdi und

Ahmed Al-Nami, gebucht auf den Flug 93 am nächsten Morgen.

Ihr Anführer Ziad Jarrah hat wohl den Briefumschlag geöffnet, der die handschriftlichen Anweisungen für die Nacht enthielt. Die gläubigen Moslems

werden den Instruktionen gefolgt sein. Sie duschten, entfernten mit dem Rasierapparat »überflüssiges Körperhaar«, besprühten sich mit Duftwasser,

schärften ihre Messer und beteten.

Nach Einbruch der Dunkelheit flirren hinter den schalldichten Hotelfenstern die Lichter der Flugzeuge wie Glühwürmchen über den Himmel. Von

den oberen Etagen kann man bei klarer Sicht die Skyline Manhattans sehen. Damals noch mit den beiden Türmen des World Trade Centers.

Es war ein klarer Abend.

Die vier jungen Männer mussten versuchen, sich auf eine »baldige Hochzeit« im Paradies vorzubereiten. In den Koran vertieft, sollten sich

Ziad Jarrah und seine Mitverschwörer in die Ekstase versetzen, die sie zu kaltblütigen Massenmördern machte - bis heute unvorstellbar für Jarrahs

viele Freunde und Bekannten in Deutschland.

Sie haben den libanesischen Flugzeugbaustudenten an der Fachhochschule Hamburg als sensiblen, intelligenten Menschen gesehen. Sie erinnern sich

an ein jungenhaftes Gesicht, die modische Wollmütze auf seinem Kopf, wache, freundliche Augen. Sie haben die Nächte nicht vergessen, in denen

Jarrah und seine Freundin ausgelassen tanzten und er schon mal so viel Bier trank, dass er sich auf dem Heimweg kaum auf dem Fahrrad halten

konnte.

»Der liebe Junge«

Seine ehemalige Zimmervermieterin im Hamburger Vorort Hummelsbüttel, Rosemarie Canel, nennt ihn noch heute »den lieben Jungen«, kann nicht

vergessen, wie Ziad am Sterbebett ihres Mannes saß, ihm die Hand hielt. Ihr Ex-Mieter hat sie einige Zeit vor dem 11. September noch einmal aus

Amerika angerufen. Um sich zu verabschieden, wie sie heute weiß. Er hat gesagt: »Ich fliege jetzt. Ich bin Pilot. Ich kann sogar einen Airbus steuern.«

Auch am Abend vor der Entführung gelang es Jarrah anscheinend nicht, »total zu vergessen, was man diese Welt nennt«, wie die Anleitung für die

Selbstmordattentäter verlangte. Er dachte an seine türkische Freundin Aysel und schrieb ihr einen Brief nach Bochum. Dieser Brief kam nie an, weil

Jarrah in seiner Aufregung die falsche Adresse draufschrieb.

Die Gruppe war lange auf den kommenden Tag vorbereitet worden. Etwa ein halbes Jahr zuvor hatte einer von ihnen, Ahmed Al-Haznawi, für die

»Märtyrer der Schlacht um New York und Washington« das Testament auf Video gesprochen: »Die Zeiten der Demütigung und Unterwerfung sind

vorbei. Es ist an der Zeit, die Amerikaner in ihrer Heimat zu töten, inmitten ihrer Söhne, ihrer Militärs und Geheimdienste.«

Für Hilda Marcin sollte am 11. September ein neuer Lebensabschnitt beginnen. Die 79-jährige Deutsch-Amerikanerin hatte endlich aufgehört zu

arbeiten und wollte den Rest ihrer Tage bei ihrer Tochter Carole in Kalifornien genießen. Wie schon zuvor bei ihren jährlichen Besuchen an der West-

küste flog sie dienstags mit der Frühmaschine, United Airlines 93. In ihrem Alter gab es Gewohnheiten. Die letzte Nacht verbrachte Hilda Marcin bei

ihrer anderen Tochter Elizabeth nahe New York. Als die um fünf Uhr früh aufstand, saß die Mutter schon reisefertig in der Küche. Obwohl es bis

Newark kaum eine Stunde war, drängte die alte Dame zum Aufbruch. Sie wollte am Flughafen noch einen Cream Cleese Basel frühstücken.

Flugkapitän Jason Dahl, 43, ließ sich ebenfalls gern Zeit vor einem Flug. Rund 20 Minuten brauchte er gewöhnlich, um seine marineblaue Uniform mit

den vier goldenen Streifen am Ärmel in Ordnung zu bringen. Und noch den letzten Fussel zu beseitigen.

»Prüfe deine Waffe, bevor du gehst...«

Die arabischen Studenten im Marriott mussten laut Anweisung darauf achten, dass das Hemd fest in der Hose saß, durften die Socken nicht vergessen

und sollten die Schuhe eng schnüren. Und dann: »Prüfe deine Waffe, bevor du gehst. Dein Messer muss scharf sein, damit du das Tier nicht quälst,

wenn du es schlachtest.«

Hilda Marcin ging vor der Abfahrt in das Zimmer, in dem ihre Enkelin schlief. Sie gab ihr einen Kuss, verliess das Zimmer und kehrte noch einmal

zurück. Melissa war aufgewacht. Hilda küsste sie noch einmal und sagte: »Schlaf schön weiter. Heute Abend telefonieren wir.«

Kurz nach sechs kam Carol Sullivan, die Mitarbeiterin von Adams, in die Lobby des Marriott, um mit dem Hotelbus zum Airport zu fahren. Ihr Flug

mit Continental ging 15 Minuten vor der United-Maschine, auf die er gebucht war. Sie flogen nicht zusammen, weil Sullivan Continental-Meilen

sammelte und der Deutsche bei der Star Alliance punktete. Carol Sullivan sind sie nicht aufgefallen, die vier arabisch aussehenden jungen Männer,

die ebenfalls um diese Zeit zum Flughafen fuhren. Vom Hotel waren es nur ein paar hundert Meter bis dort hin.

Hilda Marcin war schon vor halb sieben in der Halle A des Flughafens Newark angekommen. In ihren vier Koffern hatte sie die Erinnerungsstücke an

ein langes Leben. Zu den kostbarsten gehörten die Fotos vom Vater, der als Musiker mit dem Zirkus Krone durch Deutschland und Europa getingelt

war. Hilda wollte sie unbedingt selbst im Flugzeug mitnehmen. Nie hätte sie die Sachen einem Spediteur anvertraut.

Die Cafeteria in Halle A war wegen Umbaus geschlossen. Cream Cheese Bagels gab es nur vom fahrbaren Imbiss. Das wollte die alte Dame nicht. Sie

hatte sich auch nach Jahrzehnten in Amerika nicht daran gewöhnt, im Vorübergehen zu frühstücken. Dann wollte sie lieber gleich durch die Sicher-

heitskontrolle, bevor sich eine Schlange bildete. Die Tochter umarmte sie lange. »Wir reden heute Abend«, sagte Hilda Marcin und ging.

Kapitän Jason Dahl war nur durch den Tausch mit einem Kollegen für den Flug 93 eingeteilt worden. So hatte er mehr Zeit, seinen fünften Hochzeits-

tag am Freitag darauf zu inszenieren. Damit wollte er seine Frau überraschen.

Dahl war schon mit den technischen Vorbereitungen des Fluges beschäftigt, als Mark Bingham im Bett seines Freundes Matt Hall aus dem Schlaf

schreckte. Ursprünglich war er auf eine Maschine am Vorabend gebucht. Erschöpft nach einigen aufregenden Tagen mit Matt hatte er dann beschlos-

sen, eine weitere Nacht dranzuhängen. Wieder war es spät geworden. Mark stopfte seine Sachen in die alte Sporttasche des Berkeley Rugby Teams,

für das er gespielt hatte. Es war eigentlich unmöglich, den Flug noch zu erreichen. Aber Matt raste mit seinem Chevy Beretta über Highway und

Schleichwege.

Geschäftsreisende, Verwandtenbesucher, urlaubende Pärchen

Vielflieger wussten, dass sie einen der angenehmeren Transkontinental-Flüge gebucht hatten. Auf Flug 93 mit 182 Sitzen gab es fast immer viel Platz.

An diesem Morgen waren es nur 36 Passagiere, die pünktlich an Bord gingen. Geschäftsreisende, Verwandtenbesucher, urlaubende Pärchen, Studen-

ten, die zu ihrer Uni wollten. Und vier zu Mord und Selbstmord entschlossene junge Männer.

Um 7.55 Uhr schlossen die Stewardessen die Kabinentür. Sekunden später stand atemlos der 37. Passagier am Gate: Mark Bingham. Er zeigte sein

Ticket für die erste Klasse, erweichte mit seinem jungenhaften Charme das Bodenpersonal. Gegen die Bestimmungen wurde die Flugzeugtür noch

einmal geöffnet. Bingham liess sich in Sitz 4D fallen, nahm das Airphone aus der Lehne, wählte die Nummer seines Freundes Matt und sagte: »Ich

sitze gemütlich in der ersten Klasse und schlürfe Orangensaft. Noch mal vielen Dank für deine verrückte Fahrerei.«

Um 8.01 Uhr entdeckte Kapitän Dahl, dass die Unterlagen über die Betankung nicht vollständig waren. Der Pedant bestand auf Klärung. Die Rück-

frage dauerte nur Minuten. Aber dadurch rutschte UA 93 in der Startliste nach hinten. Die Maschine sollte noch 40 Minuten am Boden bleiben.

Währenddessen startete in Boston Flug 11 der American Airlines nach Los Angeles. United Airlines, Flug 175, hob eine Viertelstunde später ab. In

derselben Minute, um 8.15 Uhr, registrierte das Bostoner Flugkontrollzentrum, dass American Airlines 11 die vorgegebene Route nach Los Angeles

verliess. Der Fluglotse versuchte, Kontakt mit der Maschine aufzunehmen. Vergebens.

»Sie sind ins Cockpit eingedrungen«

Als um 8.27 Uhr ein Mitarbeiter in der Reservierungszentrale von American Airlines das Telefon abnahm, hörte er eine atemlose Frauenstimme:

»Zwei Stewardessen sind niedergestochen worden. Eine weitere wird beatmet. Einem Passagier haben sie die Kehle durchgeschnitten. Er sieht tot aus.

Sie sind ins Cockpit eingedrungen.« Die Anruferin identifizierte sich als Betty Ong, Stewardess auf Flug AA 11.

Die Passagiere des Fluges UA 93 warteten da noch ungeduldig auf den Start. Der spät gekommene Mark Bingham saß, nur durch den schmalen Gang

getrennt, neben Thomas Burnett, 38. Falls die Männer ins Gespräch gekommen sind, konnten sie schnell Gemeinsamkeiten entdecken. Beide waren

junge, erfolgreiche Geschäftsmänner, sportbegeisterte Athleten. Beide hatten ein konservativ-republikanisches Weltbild.

Burnett, Top-Manager einer Firma für medizinische Geräte, verbrachte das halbe Leben in der Luft. Er kam gerade aus Wisconsin, wo er am Wochen-

ende in seinem Jagdrevier einen Hochstand gebaut hatte. Eigentlich war Burnett auf eine Maschine am Nachmittag gebucht. Am Abend zuvor hatte er

aber seiner Frau am Telefon versprochen, dass er früher kommen wolle, um sich endlich mal wieder um seine drei kleinen Töchter kümmern zu

können.

Es gab sechs Reihen in der First Class mit 24 Sitzen, die nur zur Hälfte besetzt waren. Auf 1B, gut zwei Meter von der Tür zum Cockpit, saß Ziad Jarrah.

Hinter ihm, in der dritten Reihe, waren Ahmed Al-Haznawi und Saeed Al-Ghamdi, zwei seiner Mitverschwörer. Zwischen ihnen, auf Platz 2A und 2B,

freuten sich Linda Gronlund, Umwelt-Ingenieurin bei BMW Nordamerika, und ihr Lebensgefährte Joe DeLuca auf einen Kurzurlaub. Zwei Tage später

wollten die beiden Lindas 47. Geburtstag in den kalifornischen Weinbergen feiern.

Linda Gronlund galt als Draufgängerin, trug den braunen Karategürtel, tauchte, segelte, war passionierter Motorsportfan. Aber später wurde sie nie

besonders hervorgehoben in der Legende vom Aufstand der Passagiere. Anders als Todd Beamer oder Tom Burnett war sie eine Frau, nicht so konser-

vativ, nicht einmal verheiratet.

»...lass den Boden unter ihren Füßen beben«

Um 8.42 Uhr hob die Boeing 757 schließlich in Newark von der Startbahn 4L ab. Die vier jungen Araber in der First Class sollten laut ihrem Handbuch

jetzt beten: »Gib uns den Sieg und lass den Boden unter ihren Füssen beben.«

Die Maschine machte eine Rechtskurve, flog etwa sechs Kilometer auf die Skyline von Manhattan zu, bevor sie auf ihre Route nach Westen ein-

schwenkte. Die Passagiere auf der rechten Seite haben da vielleicht die noch kleine Rauchwolke am Nordturm des World Trade Centers gesehen.

Keine fünf Minuten nach dem Start von Flug UA 93 hatte Mohammed Atta eine Boeing 767 der American Airlines, Flug AA 11, in das 110 Stock-

werke hohe Gebäude geflogen. In der ersten Klasse von Flug 93 nahm der Passagier auf Sitz 1B das Telefon aus der Seitenlehne. Ziad Jarrah wählte

die Nummer seiner Freundin Aysel in Deutschland.

Um 7.55 Uhr schlossen die Stewardessen die Kabinentür. Sekunden später stand atemlos der 37. Passagier am Gate: Mark Bingham. Er zeigte sein

Ticket für die erste Klasse, erweichte mit seinem jungenhaften Charme das Bodenpersonal. Gegen die Bestimmungen wurde die Flugzeugtür noch

einmal geöffnet. Bingham liess sich in Sitz 4D fallen, nahm das Airphone aus der Lehne, wählte die Nummer seines Freundes Matt und sagte:

»Ich sitze gemütlich in der ersten Klasse und schlürfe Orangensaft. Noch mal vielen Dank für deine verrückte Fahrerei.«

Um 8.01 Uhr entdeckte Kapitän Dahl, dass die Unterlagen über die Betankung nicht vollständig waren. Der Pedant bestand auf Klärung. Die Rückfrage

dauerte nur Minuten. Aber dadurch rutschte UA 93 in der Startliste nach hinten. Die Maschine sollte noch 40 Minuten am Boden bleiben.

Währenddessen startete in Boston Flug 11 der American Airlines nach Los Angeles. United Airlines, Flug 175, hob eine Viertelstunde später ab.

In derselben Minute, um 8.15 Uhr, registrierte das Bostoner Flugkontrollzentrum, dass American Airlines 11 die vorgegebene Route nach Los Angeles

verliess. Der Fluglotse versuchte, Kontakt mit der Maschine aufzunehmen. Vergebens.

»Sie sind ins Cockpit eingedrungen«

Als um 8.27 Uhr ein Mitarbeiter in der Reservierungszentrale von American Airlines das Telefon abnahm, hörte er eine atemlose Frauenstimme:

»Zwei Stewardessen sind niedergestochen worden. Eine weitere wird beatmet. Einem Passagier haben sie die Kehle durchgeschnitten. Er sieht tot aus.

Sie sind ins Cockpit eingedrungen.« Die Anruferin identifizierte sich als Betty Ong, Stewardess auf Flug AA 11.

Die Passagiere des Fluges UA 93 warteten da noch ungeduldig auf den Start. Der spät gekommene Mark Bingham saß, nur durch den schmalen Gang

getrennt, neben Thomas Burnett, 38. Falls die Männer ins Gespräch gekommen sind, konnten sie schnell Gemeinsamkeiten entdecken. Beide waren

junge, erfolgreiche Geschäftsmänner, sportbegeisterte Athleten. Beide hatten ein konservativ-republikanisches Weltbild.

Burnett, Top-Manager einer Firma für medizinische Geräte, verbrachte das halbe Leben in der Luft. Er kam gerade aus Wisconsin, wo er am Wochen-

ende in seinem Jagdrevier einen Hochstand gebaut hatte. Eigentlich war Burnett auf eine Maschine am Nachmittag gebucht. Am Abend zuvor hatte er

aber seiner Frau am Telefon versprochen, dass er früher kommen wolle, um sich endlich mal wieder um seine drei kleinen Töchter kümmern zu

können.

Es gab sechs Reihen in der First Class mit 24 Sitzen, die nur zur Hälfte besetzt waren. Auf 1B, gut zwei Meter von der Tür zum Cockpit, saß Ziad Jarrah.

Hinter ihm, in der dritten Reihe, waren Ahmed Al-Haznawi und Saeed Al-Ghamdi, zwei seiner Mitverschwörer. Zwischen ihnen, auf Platz 2A und 2B,

freuten sich Linda Gronlund, Umwelt-Ingenieurin bei BMW Nordamerika, und ihr Lebensgefährte Joe DeLuca auf einen Kurzurlaub. Zwei Tage später

wollten die beiden Lindas 47. Geburtstag in den kalifornischen Weinbergen feiern.

Linda Gronlund galt als Draufgängerin, trug den braunen Karategürtel, tauchte, segelte, war passionierter Motorsportfan. Aber später wurde sie nie

besonders hervorgehoben in der Legende vom Aufstand der Passagiere. Anders als Todd Beamer oder Tom Burnett war sie eine Frau, nicht so kon-

servativ, nicht einmal verheiratet.

»...lass den Boden unter ihren Füßen beben«

Um 8.42 Uhr hob die Boeing 757 schließlich in Newark von der Startbahn 4L ab. Die vier jungen Araber in der First Class sollten laut ihrem Handbuch

jetzt beten: »Gib uns den Sieg und lass den Boden unter ihren Füßen beben.«

Die Maschine machte eine Rechtskurve, flog etwa sechs Kilometer auf die Skyline von Manhattan zu, bevor sie auf ihre Route nach Westen einschwenk-

te. Die Passagiere auf der rechten Seite haben da vielleicht die noch kleine Rauchwolke am Nordturm des World Trade Centers gesehen. Keine fünf

Minuten nach dem Start von Flug UA 93 hatte Mohammed Atta eine Boeing 767 der American Airlines, Flug AA 11, in das 110 Stockwerke hohe Ge-

bäude geflogen. In der ersten Klasse von Flug 93 nahm der Passagier auf Sitz 1B das Telefon aus der Seitenlehne. Ziad Jarrah wählte die Nummer

seiner Freundin Aysel in Deutschland.

Tödliche Logik

Womöglich hat Jarrah sogar bis zum Schluss darauf gehofft, der tödlichen Logik des ganzen Wahnsinns irgendwie zu entkommen. Für die vorletzte

Septemberwoche hatte er sich gemeinsam mit Aysel bei seinen Eltern im Libanon angesagt. Im Jahr darauf sollte Hochzeit sein. Wenn man der These

folgt, dass Jarrah zum Märtyrertod nicht bereit war, versteht man auch, weshalb er noch zwei Tage vor der Entführung gegen eine der Grundregeln

aus der Anleitung für Attentäter verstieß. Die lautete: »Man soll die notwendigen Papiere besitzen und die Verkehrsregeln einhalten, um jeden Ärger

mit der Polizei zu vermeiden.« Dennoch wurde er wegen überhöhter Geschwindigkeit mit einem Leihwagen am 9. September auf dem Interstate-

Highway 95 in Maryland gestoppt. Fast so, als habe er die Aufmerksamkeit der Polizei provozieren wollen. Die Beamten stellten einen Strafbefehl

über 270 Dollar aus und liessen ihn weiterfahren.

In der First Class von Flug 93 räumten die Stewardessen das Frühstücksgeschirr ab, schenkten Getränke nach. Die Maschine hielt in 10 000 Meter Höhe

Kurs auf Cleveland und den Erie-See. Um 9.25 Uhr meldete sich Kapitän Jason Dahl mit einem aufgeräumten »Guten Morgen« bei der Flugleitstelle

von Cleveland. Andere Piloten hatten nachgefragt, was der Hintergrund für die mysteriöse Warnung vor Eindringlingen auf dem Display sei. Dahl

und sein Kopilot Homer waren offenbar nicht beunruhigt.

Jason Dahl war bester Laune, seit er die Planungen für den Hochzeitstag nahezu abgeschlossen hatte. Während seine Frau Sandy am Freitagabend mit

ihrer Kosmetikerin im Schlafzimmer beschäftigt sein würde, sollten sich die Gäste zur Überraschungsparty in der Wohnhalle des großen Hauses ver-

sammeln. Sobald sie die Freitreppe herunterkäme, würde der elektrische Flügel, den er ihr schenkte, ihr Hochzeitslied spielen - einen alten Latino-

Schlager. Vor der Tür stünde der weiße Volvo, den sie sich gewünscht hatte. Am Tag darauf wollte er mit ihr zum Wochenendtrip nach London auf-

brechen.

Während Dahl Kontakt zur Flugleitstelle in Cleveland aufnahm, banden sich der Passagier auf dem Sitz 1B und die drei Mitverschwörer hinter ihm

rote Tücher um den Kopf. Seit dem Start waren 45 Minuten vergangen. Ziad Jarrah stand auf. Links von ihm lag eine Toilette, rechts die kleine Bord-

küche. Nach zwei Schritten stand er vor der Tür zum Cockpit.

Gang und Tür sind in der Boeing 757 so schmal, dass nur ein Terrorist allein angreifen konnte. Ob er eine Stewardess zum Aufschließen des Cockpits

zwang oder die schwach gesicherte Tür mit Gewalt öffnete, ist unklar. In der Flugleitzentrale von Cleveland hörten die Controller kurz nach dem

Morgengruß von Kapitän Dahl Stimmengewirr, dann ein wütendes »Hey«. »Ruft jemand Cleveland?«, fragte einer der Lotsen. Die Leitung blieb

stumm.

»Raus hier!« »Raus hier!«

Nach etwa 40 Sekunden musste es einem der Piloten gelungen sein, die Sprechtaste wieder zu drücken. Eine amerikanische Stimme rief: »Raus hier!«

Und noch einmal schwächer: »Raus hier!« Dann war Stille. Minutenlang. Bis die Lotsen einen Mann mit eigenartigem deutsch-arabischem Akzent

hörten, der völlig außer Atem war - so wie nach einem heftigen Kampf: »Hallo, hier spricht der Kapitän. Bleiben Sie bitte sitzen. Wir haben eine Bombe

an Bord und fliegen zurück zum Flughafen.«

Um 9.30 Uhr forderte das Kontrollzentrum von United Airlines alle Maschinen auf, schnellstmöglich zu landen. Von Flug 93 kam keine Bestätigung.

Stattdessen stieg die Boeing 757 auf 40 000 Fuß, etwa 13 000 Meter.

US-Vizepräsident Dick Cheney saß zu diesem Zeitpunkt in seinem Büro und starrte auf das Bild der rauchenden Türme, das der Sender CNN live in

alle Welt übertrug. Gegen 9.35 Uhr wurde die Zentrale des Secret Service im Weißen Haus alarmiert: Ein unbekanntes Flugobjekt nähere sich mit 800

Stundenkilometern der Hauptstadt. Zwei Agenten stürmten in das Amtszimmer, packten Cheney unter den Armen und am Gürtel. Sie rannten mit

ihm die Treppen des Weißen Hauses hinunter. Er wurde in den atombombensicheren Präsidenten-Bunker gebracht. Dort sagte man ihm, dass ein sich

näherndes Flugobjekt möglicherweise das Weiße Haus zum Ziel habe.

Die Entführer hatten Passagiere und Crew von UA 93 in den hinteren Teil der Maschine getrieben. Der Mann, der die Geiseln bewachte, trug ein Paket

am Gürtel. Wenige Minuten nach dem Überfall rief Tom Burnett seine Frau Deena an. Er sprach schnell und leise: »Ich bin auf dem United Flug 93.

Das Flugzeug ist entführt worden. Ein Mann wurde niedergestochen, und sie sagen, sie haben eine Bombe an Bord. Informiere die Polizei.«

Alle Versuche des Kontrollzentrums von United, Kontakt mit Flug 93 aufzunehmen, blieben vergebens. Die Entführer hatten den Transponder aus-

geschaltet. Damit verschwand die Maschine zunächst vom Radarschirm. Schließlich gelang es, sie wieder zu orten. Hilflos beobachteten die Fluglotsen,

wie der Punkt, der UA 93 markierte, über Ohio eine scharfe Kurve beschrieb und sich mit hoher Geschwindigkeit auf Washington zubewegte.

»Wir müssen was tun«

Um 9.40 Uhr stürzte der American Airlines Flug 77 in den Südwest-Flügel des Pentagon. Um 9.45 Uhr wählte Tom Burnett wieder die Nummer seiner

Frau. Deena hatte Sekunden zuvor vom Absturz auf das Pentagon erfahren. Sie war erleichtert, die Stimme ihres Mannes zu hören. Dann erklärte sie

ihm, dass die Terroristen offenbar mit entführten Maschinen die bedeutendsten Gebäude der Ostküste zerstörten. Tom sagte: »Wir müssen was tun.«

Politiker und Militärs zogen sich in Schutzräume zurück. Hektisch ließ die Polizei überall im Land Hochhäuser räumen, Schulen schließen, Gerichts-

verhandlungen unterbrechen. Präsident George W. Bush wurde zur selben Zeit an Bord der »Air Force One« in Sarasota/Florida gebracht. Die

Maschine sollte so schnell wie möglich starten, eskortiert von F-15- und F-16-Kampffliegern.

»Gebt mir den Präsidenten«, rief Cheney seinen Mitarbeitern im Befehlsbunker des Weißen Hauses zu. Nach einigen Minuten hatte er Bush am Telefon.

Die beiden wurden sich schnell einig: »Amerika wird angegriffen.« Seit dem Krieg gegen England 1814 war das Weiße Haus nicht mehr in Gefahr ge-

wesen. »Ich gab unseren Militärs die notwendigen Befehle, um Amerikaner zu schützen«, sagte Bush später über diesen Augenblick. »Natürlich war

das schwer.«

Der Stab des Vizepräsidenten ging von bis zu sechs verdächtigen Passagierflugzeugen aus. Cheney fragte Bush, wie die etwa 20 Minuten zuvor von

der Langley Air Force Base in Virginia gestarteten F-16-Kampfflieger mit den entführten Maschinen umgehen sollten. Und er empfahl dem Präsidenten,

den Befehl zum Abschuss zu geben. Bush sagte: »Okay, ich übernehme die Verantwortung.«

»Ich melde mich gleich wieder«

»Ich liebe dich.« Jeremy Glick sprach von Bord des Fluges UA 93 immer wieder denselben Satz ins Telefon. Und seine Frau Lyz wiederholte den Satz

genauso oft. Der 100-Kilo-Mann, ehemaliger Judo-Champion, fragte, ob es wahr sei, was andere Passagiere über die Anschläge auf das World Trade

Center berichteten. Lyz bestätigte es. Jeremy Glick sagte, dass die Passagiere darüber abstimmen wollten, ob sie die Terroristen angreifen. »Wir haben

noch unsere Buttermesser vom Frühstück. Bleib dran. Ich melde mich gleich wieder.«

Offenbar hatten die Entführer es aufgegeben, die Geiseln einzuschüchtern. 23 Telefonate wurden allein von Bordtelefonen geführt, andere über

Handys. Nie war davon die Rede, dass die Passagiere bedroht würden. Dabei mussten Jarrah und seine Leute davon ausgehen, dass die Behörden auf

diese Weise wichtige Informationen erhielten, dass die Geiseln von den anderen Angriffen erfuhren und womöglich im Widerstand die einzige Über-

lebenschance erkennen würden. Für das laxe Verhalten von Jarrahs Kommando gibt es keine plausible Erklärung.

Aus der Bordküche im Heck der Maschine telefonierte die Stewardess Sandra Bradshaw mit ihrem Mann Phil. Sie berichtete, dass sie zusammen mit

den Kolleginnen kochendes Wasser in Kannen fülle, um es auf die Entführer zu schütten. »Wir werden versuchen, das Flugzeug wieder zurückzu-

kriegen. Phil, alle rennen Richtung erster Klasse. Ich muss los. Bye.«

Vizepräsident Cheney saß mit seiner Frau und den engsten Mitarbeitern im holzgetäfelten Konferenzzimmer des Bunkers unter dem Weißen Haus.

Der Befehlsstand für den Kriegsfall war in kürzester Zeit funktionstüchtig. Auf dem mächtigen Tisch stand eine gefüllte Keksschale neben den

Flaschen mit Säften, Cola und Wasser. Die Nachrichten, die von draußen hereindrangen, schürten die Katastrophenstimmung: noch mehr Entführ-

ungen, ein möglicher Angriff auf die Präsidentenmaschine, Bombenexplosionen im Außenministerium, auf dem Capitol, am Lincoln Memorial. Alle

diese Meldungen erwiesen sich später als falsch.

Mark Bingham rief seine Familie in Kalifornien an. Zunächst sprach er mit der Schwester. Dann war seine Mutter am Apparat. Mark wirkte abwesend.

Er machte lange Pausen, in denen er sich offensichtlich mit anderen leise besprach. Plötzlich brach das Gespräch ab.

»Sollen wir sie abfangen?«

Auf den großen Bildschirmen im Konferenzraum sah Cheney, wie der Südturm des World Trade Centers einstürzte. Ein Offizier aus der Kommunika-

tionszentrale meldete, auf den Radarschirmen werde ein nicht identifiziertes Flugzeug beobachtet, das sich in 130 Kilometer Entfernung mit etwa 750

Kilometern pro Stunde auf Washington zubewege. In etwa zehn Minuten konnte die Maschine das Weiße Haus erreichen. »Sollen wir sie abfangen?«,

fragte der Untergebene. »Ja«, sagte Cheney.

Todd Beamer sprach und betete seit einer Viertelstunde mit Lisa Jefferson, der Schichtleiterin in der Vermittlung der Telefongesellschaft GTE. Ge-

meinsam sprachen sie den Psalm 23: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln - Und ob ich wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein

Unglück; denn du bist bei mir.«

Die BMW-Umweltbeauftragte Linda Gronlund hinterließ zur selben Zeit auf dem Anrufbeantworter ihrer Schwester eine Nachricht: »Wir wissen,

was in New York passiert ist. Ich wünschte, wir könnten uns noch einmal sprechen.« Dann hinterließ Linda die Zahlenkombination ihres Safes.

Thomas Burnett verabschiedete sich von seiner Frau: »Ich muss jetzt los.« Todd Beamer betete das Vaterunser zu Ende und sagte die legendären Worte:

»Are you ready, guys. Okay. Let?s roll.« - »Seid ihr bereit, Jungs. Okay. Los geht's.«

Alle Telefongespräche brachen um kurz vor zehn Uhr ab. Weshalb, ist eines der ungelösten Rätsel des Fluges 93. Dabei hatten die Schichtleiterin von

GTE wie Angehörige die Passagiere beschworen, nur ja nicht aufzulegen. Was dann an Bord passierte, weiß niemand. Aber es sind diese Minuten, in

denen die Legende vom heroischen Kampf der Passagiere mit den Entführern entstand.

Die Platzverhältnisse in der schmalen Boeing 757 waren extrem ungünstig für eine Attacke auf die Terroristen. Auch in der ersten Klasse ist der Mittel-

gang so eng, dass ihn Angreifer nur hintereinander benutzen können. Ein Sturm von mehreren Personen war damit unmöglich. Für die Terroristen

war es nicht schwer, den Zugang zum Cockpit zu verteidigen. Sie besaßen mindestens zwei Messer und womöglich auch noch eine Feueraxt, die im

Cockpit hing.

Blosse Hände und heisses Wasser

Dagegen hatten die Passagiere keine Waffen außer ihren bloßen Händen und dem heißen Wasser. FBI-Ermittler vermuten, dass die scheppernden Ge-

räusche auf dem Voicerecorder des Flugzeugs von einem Servierwagen stammten, den die Passagiere möglicherweise als Rammbock benutzten. Das

Tonband der letzten Minuten, so weit Angehörige der Passagiere es hören durften, ist ein einziges Chaos aus undefinierbarem Lärm und Schreien in

englischer und arabischer Sprache. »Allahu akbar«-Rufe der Kidnapper vermischten sich mit den Wortfetzen der Passagiere: »Los, wir kriegen sie.«

Im Cockpit schien es zu einem Kampf gekommen zu sein, wenn man der Ehefrau des Kapitäns folgt. »Man hört Schreie. Die waren von Jason, der ver-

suchte, das Flugzeug zu retten«, sagt Sandy Dahl. »Einer der Entführer hatte Angst, wurde aber von einem anderen damit beruhigt, dass sowieso bald

alles vorbei sei.«

Die letzte Minute der Aufzeichnung besteht nur aus ungeheurem Getöse und Rauschen. »Als Stewardess habe ich solchen Lärm schon im Simulator

gehört«, sagt die United-Airlines-Angestellte Sandy Dahl. »Er entsteht entweder, wenn ein Flugzeug mit Überschallgeschwindigkeit fliegt. Oder durch

plötzlichen Druckabfall in der Kabine.« Das lässt die Möglichkeit offen, ob die Maschine abstürzte, ob sie mit Höchstgeschwindigkeit zu Boden ge-

steuert wurde oder ob eine Explosion die Außenhaut des Jets zerstört hatte.

Das letzte Telefonat aus der Maschine war um 9.58 Uhr in einem Notruf-Center in Westmoreland County, Pennsylvania, eingegangen. Mühsam um

Worte ringend, sagte der Ingenieur Edward Felt, er sei in der Toilette der entführten Maschine. Felt gab keinen Hinweis auf den Angriff der Passagiere,

der zu dieser Zeit begonnen haben musste. Stattdessen - so berichteten zunächst mehrere lokale Zeitungen - habe er von einer Explosion und Rauch-

entwicklung gesprochen. Das Notruf-Center und Felts Witwe dementierten später: Der Anrufer habe nach kurzem Gespräch nur gerufen:

»Wir stürzen ab.«

In der Zentrale von United Airlines beobachtete man, wie um 10.06 Uhr der Punkt, der auf dem Schirm Flug 93 markierte, bei Shanksville, Pennsyl-

vania, einen Moment stehen zu bleiben schien und dann erlosch. Die es sahen, schwankten zwischen Trauer und Erleichterung. Die Maschine war

offensichtlich abgestürzt, der Angriff auf Washington gescheitert. Im Weißen Haus zeigte man sich schnell davon überzeugt, Flug 93 sei nicht abge-

schossen worden.

»Heiß auf den Fersen«

Fast ein Jahr nach der Tragödie ist es schwer, Zeugen zu finden, die anderes gesehen oder gehört haben. Zwei Tage nach dem Absturz von UA 93 hatte

die Zeitung »The Telegraph« aus Nashua in Vermont berichtet, Fluglotsen des Towers von Nashua hätten erfahren, dass eine F16 der United-Maschine

»heiß auf den Fersen« gewesen sei. Der Autor des Berichts, Albert McKeon, sagt, mehrere Fluglotsen hätten das auch später bestätigt. »Aber ihre Vor-

gesetzten haben enormen Druck gemacht. Die dürfen nicht mehr reden.«

Tatsächlich ist es kaum zu erklären, warum es der US-Luftwaffe nicht gelungen sein sollte, einen Abfangjäger in die Nähe des entführten Flugzeugs zu

bringen. Gegen 9.35 Uhr waren drei F16 von der Langley Air Force Base gestartet, um Washington zu schützen. Eine dieser Maschinen hätte Flug 93

mindestens zehn Minuten vor dem Absturz erreichen können. Der stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz erklärte am 15. September,

die Luftwaffe sei bei UA 93 »in einer Position gewesen, um sie runterzuholen, wenn nötig«.

Der Sportpilot Bill Wright war mit seiner Piper am 11. September bis auf 4,5 Kilometer an die United-Maschine herangeflogen. Da bekam er von der

Bodenkontrolle den Befehl, »so schnell wie möglich so weit wie möglich wegzufliegen«.

Zeugen sahen kurz nach dem Absturz einen weißen, nicht markierten Jet über dem Unglücksort kreisen. »In nur 30 bis 45 Meter Höhe«, sagt Lee

Purbaugh, der den Absturz als Einziger von seinem Arbeitsplatz, einem Schrottplatz, aus direkt verfolgte. FBI und Militär bestritten diese Aussage zu-

nächst kategorisch. Nur ein C-3-Transportflugzeug der Air Force sei in der Gegend gewesen - 100 Meilen entfernt. Später gab die Polizei zu, man habe

den Piloten eines Geschäftsjets vom Typ Falcon 420, der in 43 000 Fuß Höhe auf den Absturzort zuflog, gebeten, bis auf 1000 Fuß zu sinken und seine

Beobachtungen zu melden. Es wurde nie bekannt gegeben, wer dieser Pilot war.

Ungeklärt ist auch die Frage, weshalb Broschüren, Briefe und Dokumente aus dem Flugzeug über einen Berghang bis in das zwölf Kilometer entfernte

New Baltimore fliegen konnten. Angeblich war die Maschine intakt, als sie bei Shanksville aufschlug. Alle anderen Überreste der Boeing wurden in

einem Umkreis von zwei Kilometern gefunden.

Zum Stillschweigen verpflichtet

Die meisten Zeugen sind verstummt, seit das FBI sie gründlich verhörte. Einige sind zum Stillschweigen verpflichtet worden. So wurde den Fluglotsen

von Cleveland, die den Kurs von UA 93 bis zuletzt verfolgt haben, bei Strafe verboten, mit irgendjemandem darüber zu reden.

Aufschluss über die Ursachen des Absturzes könnte der Flugschreiber geben. Doch die Auswertung seiner Daten ist auch ein Jahr nach der Tragödie

Geheimsache. Die Tonbänder der Anrufe von Bord hat das FBI beschlagnahmt, sie sind seither unter Verschluss. Bei anderen Abstürzen brauchten die

Behörden nur Stunden, um Cockpit-Recorder und andere Aufnahmen zu veröffentlichen. Fragen zum Hergang der Katastrophe werden in den USA

ohnehin nicht mehr laut.

Stattdessen entstand aus bruchstückhaften, oft widersprüchlichen Informationen die Legende von den »Bürgersoldaten«, so das Magazin »Newsweek«,

»die sich erhoben, wie ihre Vorväter, um der Tyrannei zu trotzen«. Die Osama bin Laden lehrten, dass »die Amerikaner den historischen Willen haben,

für die Freiheit zu sterben«.

Dass ein überforderter, entnervter Terrorist die Maschine vor dem befohlenen Ziel in den Boden gerammt haben könnte, wird nicht einmal in Betracht

gezogen. Ebenfalls undenkbar scheint in den USA die Möglichkeit, dass die Boeing von einer Rakete getroffen wurde, als die Geiseln den Aufstand

begannen.

Helden für Amerika

Das Land braucht die Helden von Flug 93. Sie stehen für ein Amerika, das am 11. September nicht in Chaos und Agonie versank, sondern sich wehrte.

Das ging nicht ohne Namen und Gesichter. Vier Passagiere mit der passenden Biografie wurden so zu den ersten Märtyrern im Kampf gegen den

Terrorismus: Todd Beamer, Jeremy Glick, Thomas Burnett, Mark Bingham. Männer, die athletisch und erfolgreich waren und an konservative Werte

glaubten. Nur die vier sollen die »Medal of Freedom« des Präsidenten erhalten, die höchste zivile Auszeichnung der USA.

Mark Bingham, der sein ganzes Leben zu beweisen versuchte, dass auch Homosexuelle ganze amerikanische Kerle sein können, wurde zum Schwulen

des Jahres gekürt. Der gottesfürchtige Todd Beamer ist Lieblingsheld von George Bush. Seine letzten Worte, so der Präsident, stehen in den USA für

»eine neue Ethik, ein neues Credo: ,Let?s roll«».

Never Forget   9/11 2001

Das Rätsel von Flug UA 93

2001 - Terror in USA

vor 22 Jahren

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