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Um 8.46 Uhr schlägt das erste entführte Flugzeug in das World Trade Center ein,

Um 10.28 Uhr kollabiert der Nordturm.

Der Südturm wird erst 16 Minuten später getroffen, stürzt aber fast eine halbe Stunde eher zusammen. In den 102 Minuten vom Beginn der Attacke

bis zum Ende des World Trade Center rennen Menschen um ihr Leben, stürzen in den Tod, flehen um Hilfe, verabschieden sich von ihren Ange-

hörigen mit Worten der Liebe und der Verzweiflung. Mindestens 353 der Eingeschlossenen haben Kontakt zu Verwandten, Freunden oder Geschäfts-

partnern ausserhalb der Türme.

Aufzeichnungen der Notrufzentrale, Bändern des Funkverkehrs von Feuerwehr und Polizei sowie aus Berichten von 25 Menschen, die aus der Ein-

schlagzone der Flugzeuge flüchten konnten, entstand ein ergreifendes Protokoll von jenen schicksalsschweren Minuten, in denen ein falsch ge-

drückter Aufzugknopf Leben rettete und ein korrekt befolgter Befehl den Tod bedeuten konnte.

Ein strahlender Herbstmorgen

An einem der Fensterplätze mit Blick auf die Freiheitsstatue sitzt Neil D. Levin, Geschäftsführer der Port Authority. Er frühstückt sonst nie hier hoben,

doch an diesem Tag erwartet er einen befreundeten Banker. Ein Kellner, Jan Maciejewski, eilt durch den Raum, schenkt Kaffee nach, nimmt Bestell-

ungen auf. Er hat alle Hände voll zu tun. Die meisten seiner 72 Kollegen bedienen eine Etage tiefer, im Ballsaal des Restaurants, bei einer Konferenz

der Firma Risk Waters Group. Dort sind gegen 8 Uhr bereits 87 Teilnehmer erschienen, darunter Topmanager der Finanzfirmen Merrill Lynch und

UBS Warburg. Manche machen sich bereits über die Lachsschnittchen her.

Ganz unten, im Erdgeschoss, in der Lobby des World Trade Center, wartet Neil Levins Assistent auf den Frühstücksgast seines Chefs. Als der Banker

erscheint, steigen sie aus Versehen in den falschen Aufzug. Ein Fehler, der ihnen das Leben rettet. Sie müssen in die Lobby zurückfahren. Oben, im

107. Stock, liest Neil Levin derweil Zeitung. Michael Nestor und sein Kollege von der Port Authority sind neugierig, wen ihr Chef wohl erwartet.

Doch sie können nicht länger im Restaurant bleiben, Nestor muss zu einer Konferenz. Sie halten noch die Aufzugstür auf, damit Liz Thompson und

Geoffrey Wharton einsteigen können. Sie sind die letzten Menschen, die das Windows on the World lebend verlassen. Es ist 8.44 Uhr.

American Airlines Flug 11 schlägt um 8 Uhr, 46 Minuten und 26 Sekunden ein. Die Boeing 767 hat eine Spannweite von knapp 50 Metern und etwa

38.000 Liter Treibstoff an Bord. Der Aufprall erfolgt mit einer Geschwindigkeit von zirka 760 Kilometer pro Stunde. Das Flugzeug zieht eine Schneise

der Verwüstung durch die Etagen 94 bis 98 direkt bis in die Büros von Marsh & McLennan. Es zermalmt Stahlsäulen, Wände, Aktenschränke und

Computer- überladene Schreibtische. Der Treibstoff entzündet sich. Das Fahrwerk schleudert auf der Südseite wieder aus dem Gebäude heraus und

landet in der Rector Street - fünf Häuserblocks entfernt. Steve McIntyre sitzt drei Etagen unter der Einschlagzone. In seinem Büro rührt sich nichts.

Nicht einmal die Fotos seiner Familie, die er lose ins Regal gestellt hat, zittern. Der Computer läuft weiter, als wäre nichts geschehen. Dann kommt die

Erschütterung.

Von der Einschlagstelle aus brandet die mächtige Druckwelle durch den Turm, drei oder vier Sekunden lang schwankt das Gebäude - wie ein Schiff

in Seenot. »Nichts wie raus!«, schreit Greg Shark, Ingenieur und Architekt beim American Bureau of Shipping, der vor dem Büro McIntyres steht und

sich gegen die Druckwelle stemmt. Zusammen mit neun weiteren Kollegen laufen sie zu den Aufzügen und Treppenhäusern im Kern des Turms.

Steve McIntyre späht in ein dämmriges, zertrümmertes Treppenhaus, aus dem Rauchschwaden aufsteigen. In dem beissenden Dunkel sieht und hört

er niemanden. Das einzige Geräusch kommt vom Wasser der Sprinkleranlagen, das in Kaskaden die Treppen hinabstürzt. Er blickt nach oben.

Die Treppe über ihm ist blockiert. Riesige Wandplatten haben sich durch die Explosion gelöst und bilden eine unüberwindbare Sperre zwischen dem

91. und 92. Stock. Später wird sich herausstellen, dass in den 19 Etagen darüber 1344 Menschen eingeschlossen sind. Nicht einer von ihnen wird über-

leben.McIntyre sagt nur: »Das schaut nicht gut aus.« Er rutscht auf den nassen Trümmern aus und schlittert zwei Stockwerke tiefer. Unverletzt steht

er aufund sieht unter sich ein Licht. »Hier lang«, ruft er seinen Kollegen zu. Die Flucht aus dem 91. Stockwerk beginnt.

»Was sollen wir tun? Was sollen wir tun?« Wieder und wieder ruft Restaurantchefin Doris Eng die Kommandozentrale der Feuerwehr in der Lobby

des Nordturms an. Wenige Minuten nach dem Flugzeugeinschlag ist das Restaurant bereits voll Rauch. Die 170 Gäste, überwiegend Leute, die ihr

Geld machen, indem sie das Gras wachsen hören, Informationen beschaffen, mit Daten handeln oder mit den dafür notwendigen Apparaten, sind

plötzlich von allen Nachrichten abgeschnitten. »Schalt CNN ein«, mailt Stephen Tompsett, ein Computerwissenschaftler seiner Frau Dorry.

»Wir brauchen updates.«

Der Rauch wird immer dicker. Rajesh Mirpuri von Data Synapse ruft seinen Kollegen Peter Lee an und sagt ihm hustend, dass er kaum mehr als drei

Meter weit sehen könne. Peter Alderman, Verkäufer bei Bloomberg, mailt seiner Schwester: »Ich habe Angst.« Doris Eng und ihre Mitarbeiter halten

sich an die Anweisungen für Notfälle und treiben die Gäste vom 107. Stock eine Etage tiefer zu einem Gang in der Nähe der Treppe, wo es eine direkte

Telefonleitung zur Feuerwehr gibt. Nur wenn es brennt, ist die sofortige Räumung der betroffenen und der darüber liegenden Etage vorgesehen. Wer

weiter vom Brandherd entfernt ist, soll das Gebäude erst verlassen, wenn die Kommandozentrale es befiehlt oder »wenn Umstände eine Evakuierung

erforderlich machen«.

Christine Olender, Assistentin des Windows-Hauptgeschäftsführers, will ihren Chef anrufen. Doch der steht unten auf der Straße vor dem World

Trade Center. Sie erreicht seine Frau, schildert ihr die Lage im Restaurant: »Die Decken fallen runter, die Fussböden geben nach.« 20 Minuten nach

dem Attentat meldet ein Polizeihubschrauber, eine Landung auf dem Dach sei unmöglich. Trotzdem hoffen viele auf eine Rettung aus der Luft.

»Ich darf nirgendwo hin, sie haben uns gesagt, wir sollen uns nicht rühren«, spricht Ivhan Carpio, ein Restaurant-Angestellter auf den Anrufbeant-

worter seines Cousins. »Ich muss auf die Firefighter warten.«

Da die meisten Aufzüge bereits ausgefallen sind, müssen die Feuerwehrleute ihr schweres Gerät die Treppen hinaufschleppen - gegen den Strom der

Flüchtenden. Noch eine Stunde nach dem Einschlag des Flugzeugs im Nordturm befinden sich die Firefighter 50 Etagen unter dem Windows on the

World. In der Lobby nehmen die Verantwortlichen verzweifelte Anrufe aus den oberen Stockwerken entgegen. »Wir konnten nicht mehr tun, als ihnen

zu sagen, sie sollten sich nasse Handtücher vor das Gesicht halten«, sagt Alan Reiss, ehemaliger Direktor des WTC-Büros der Port Authority. Was er

nicht weiss, ist, dass die Boeing die Wasserleitungen zu den oberen Stockwerken durchtrennt hat. Jan Maciejewski, der Kellner, berichtet seiner Frau

über Handy, dass er nicht genügend Wasser finden könne, um einen Lappen nass zu machen. Er will in den Blumenvasen nachschauen.

41 Restaurantgäste rufen Verwandte und Bekannte außerhalb des Gebäudes an. Peter Mardikian von Imagine Software erzählt seiner Frau, Corine,

dass er in Richtung Dach laufen wolle und deshalb nicht lange reden könne. Garth Feeney wählt die Nummer seiner Mutter Judy in Florida. Sie geht

mit einem unbekümmerten »Hallo« ans Telefon. »Mom«, sagt Feehy, »ich rufe nicht an, um mit dir zu plaudern. Ich bin im World Trade Center, und

es ist von einem Flugzeug getroffen worden.« Die Belastung zerrt an den Nerven. Als Howard Kane, Buchhalter des Restaurants, seine Frau Laurie

anruft, hört sie im Hintergrund jemanden schreien: »Wir sind gefangen.« Innerhalb von elf Minuten ruft Gabriela Waisman ihre Schwester zehnmal

an - in schierer Verzweiflung, die Verbindung zur Aussenwelt könnte abbrechen. Veronique Bowers erzählt ihrer Grossmutter, Carrie Tillman, am

Telefon wieder und wieder, dass ein Krankenwagen in das Gebäude gekracht sei. »Sie war vollkommen durcheinander«, sagt Frau Tillman später.

Zwei Stockwerke unter dem Windows on the World ist der Konferenzraum von Cantor Fitzgerald zu einem der Zufluchtsorte für die Mitarbeiter der

Firma geworden. Hier breitet sich der Rauch nicht so schnell aus. Andrew Rosenblum, ein Börsenmakler, kommt auf die Idee, die Familien zu be-

ruhigen. Er ruft seine Frau Jill in Rockville Centre, New York, an, und gibt ihr die Namen der Umstehenden durch. »Bitte sag ihren Familien, dass

wir hier im Konferenzraum sind und dass es uns gut geht.« Jill steht daheim in der Küche und notiert eine Nummer nach der anderen auf einem

gelben Schreibblock, während auf dem kleinen Fernseher vor ihren Augen das Drama um den brennenden Turm seinen Lauf nimmt.

In einem anderen Büro, mit Blick über den Hudson River, sitzen weitere Börsenmakler und telefonieren. Ian Schneider, der das Bombenattentat auf

das World Trade Center von 1993 miterlebt hat, erzählt seiner Frau Cheryl am Telefon: »Das Gebäude hat geschwankt wie nie zuvor.« Eine dritte

Gruppe von Cantor-Angestellten ist über eine Festleitung mit anderen Büros der Firma in ganz Amerika verbunden. »Hört uns jemand?«, fragt

Stephen Cherry. Eine Börsenmaklerin aus Chicago erzählt später, dass sie eine Feuerwache in Süd-Manhattan alarmiert hat. Ihren Kollegen in

New York spricht sie Mut zu: »Sie wissen, dass ihr da seid.«

9.02 Uhr, Südturm, 98. Stock, Aon Corporation.

Noch 57 Minuten bis zum Einsturz

»Hey, hier ist Sean, falls du diese Nachricht bekommst.« Sean Rooney spricht auf den Anrufbeantworter seiner Frau Beverly Eckert. »Es hat eine

Explosion in World Trade Eins gegeben - das ist das andere Gebäude. So wie es aussieht, wurde es von einem Flugzeug getroffen. Es brennt etwa ab

dem 90. Stock. Und es ist, es ist - schrecklich. Bye.«

Die Menschen können die Hitze der lodernden Feuern, im gegenüberliegenden Turm spüren. Sie sehen, wie Leute sich aus den oberen Stockwerken

stürzen. Viele beginnen ihre Büros zu verlassen. Doch über die Lautsprecheranlage wird verkündet, sie sollen bleiben. In dem unbeschädigten Ge-

bäude, vermutet die Hausverwaltung, sei es sicherer als draußen, wo glühende Trümmer auf die Straße krachen.

Es ist 9.02 Uhr, als Sean Rooney seiner Frau eine zweite Nachricht aufs Band spricht.

9.02 Uhr, Südturm, 81. Stock, Fuji Bank.

Noch 57 Minuten bis zum Einsturz

Ja, versichert Stanley Praimnath einem Anrufer aus Chicago, ihm gehe es gut. Er erzählt ihm, wie er bis zur Lobby des Südturms hinuntergefahren

sei, aber ein Sicherheitsbeamter habe ihn zurückgeschickt. Jetzt sitzt er wieder an seinem

Schreibtisch bei der Fuji Bank. »Mir geht's gut.« Es sind seine letzten Worte, bevor er den grauen Schatten am Horizont wahrnimmt. Ein Flugzeug

rast an der Freiheitsstatue vorbei. Der Jet wird grösser und grösser, bis Stanley den roten Streifen am Rumpf erkennen kann. Dann legt sich der Flieger

in eine Kurve und steuert direkt auf ihn zu.»Allmächtiger Herr, jetzt musst du übernehmen«, schreit er und lässt sich unter seinen Schreibtisch fallen.

Um 9 Uhr, 2 Minuten und 54 Sekunden kracht die Nase des Fliegers genau in die Etage von Stanley Praimnath, etwa 40 Meter von seinem Schreibtisch

entfernt. Stahlmöbel und Aluminiumflugzeugteile fliegen wie weiß glühende Geschosse durch das Büro. Die Druckwelle schleudert Computer und

Schreibtische durch die Fenster und harkt bündelweise Elektrokabel aus der Wand. Dann scheint sich der Südturm zu biegen, das Stahlgerüst

schwingt in Richtung Hudson River, bevor es zurückschnellt. Im Nordturm waren die Treppenhäuser im Kern des Gebäudes durch die Explosion

sofort blockiert. Aber in der Einschlagzone des Südturms - zwischen den Etagen 78 bis 84 - liegen zwei Treppenhäuser näher zur Aussenwand. Eines

ist unbeschädigt geblieben.

Stanley Praimnath, der unter seinem Schreibtisch kauert und auf ein glänzendes Stück Flugzeugaluminium starrt, das sich in seine Bürotür gebohrt

hat, ahnt noch nichts von diesem Glück.

Die Maschine ist mit schräg gestellten Flügeln in den Turm gekracht und hat eine Schneise durch sechs Stockwerke gerissen. Doch selbst im 84. Stock,

dem Zentrum des Einschlags, haben Menschen überlebt, darunter Robert Coll, Dave Vera, Ronald DiFrancesco und Kevin York von Euro Brokers.

Innerhalb von wenigen Minuten hasten sie zum nächsten Treppenhaus, angeführt von Brian Clark, einem Brandschutzbeauftragten der 84. Etage, der

seine Taschenlampe und eine Pfeife dabei hat.

Feiner Puder, vermischt mit leichtem Rauch, wabert durch das Treppenhaus. Als sie sich dem 81. Stockwerk nähern, treffen sie einen schlanken Mann

und eine voluminöse Frau. »Ihr könnt nicht runter«, schreit die Frau, »ihr müsst nach oben. Unten ist alles voller Rauch und Flammen.« Eine fatale

Fehleinschätzung. Hunderte von Menschen, die diese Stelle passieren, ziehen aus Angst vor dem vermeintlichen Höllenschlund den gleichen Schluss.

Tatsächlich ist diese Treppe der einzige Weg aus dem Gebäude. Wer sie rechtzeitig erreicht, kann sich retten.

Aber so einfach stellt sich die Situation der Gruppe nicht dar, als sie wenige Augenblicke nach dem Einschlag am Treppenabsatz steht. Sie besprechen

die Alternativen. Brian Clark leuchtet jedem ins Gesicht und fragt: »Nach oben oder nach unten?« Die Debatte wird unterbrochen durch Schreie aus

dem 81. Stock. »Helft mir! Helft mir!« Es ist Stanley Praimnath, der schreit: »Ich bin eingeklemmt. Lasst mich nicht hier!«

»Komm schon, du schaffst es. Wir halten zusammen.«Ohne weitere Diskussion trennt sich die Gruppe. Coll, York und Vera laufen zusammen mit der

dicken Frau, dem dünnen Mann und zwei Kollegen von Euro Brokers die Treppe hinauf. York und Coll haken die dicke Frau unter. »Komm schon,

du schaffst es. Wir halten zusammen.« Clark und DiFrancesco eilen zu dem Mann, der hinter den Trümmern eingeschlossen ist. Stanley Praimnath

sieht den Lichtstrahl der Taschenlampe und krabbelt über umgestürzte Schreibtische und Berge von Deckenplatten. Endlich erreicht er eine einge-

stürzte Wand, das letzte Hindernis, das ihn von dem Mann mit der Taschenlampe trennt.

Die beiden kratzen und reißen an der Wand. Ein Nagel dringt durch Stanley Praimnaths Hand. Er schlägt ihn in der Dunkelheit an einer harten Fläche

wieder heraus. Endlich haben die Männer Blickkontakt, aber sie sind noch getrennt. »Du musst springen, spring hoch, du hast keine andere Wahl«,

ruft Clark. In der Zwischenzeit ist DiFrancesco auf der Suche nach frischer Luft rund zehn Etagen nach oben gelaufen. Dort findet er die erste Gruppe,

die sich für die Flucht Richtung Dach entschieden hat. Sie können das Treppenhaus nicht verlassen, die Türen zu den Stockwerken öffnen sich nicht.

In dem schweren Rauch sind die Menschen ausser Atem. Erschöpft legen sie sich hin, auch DiFrancesco.

Mary Jos weiß nicht mehr, wie lange sie bewusstlos vor dem Expressaufzug auf dem Boden der Sky Lobby im 78. Stock gelegen hat. Das Erste, was sie

fühlt, ist sengende Hitze am Rücken und im Gesicht. Instinktiv wälzt sie sich, weil sie glaubt zu brennen. Mitten im Raum und in den Aufzugschächten

sieht sie eine Feuersbrunst. Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Der große Raum, der gerade noch voller Menschen war, die nervös umhereilten

und nicht wussten, ob sie das Gebäude verlassen oder zur Arbeit zurückkehren sollten, ist nun voller lebloser Körper.

Decken, Wände, Fenster, der Informationskiosk, die Marmorverkleidung am Aufzug - was im Weg war, wurde pulverisiert, als die zweite Maschine

ihren linken Flügel in den 78. Stock bohrte. Augenzeugen berichten, sie hätten ein grelles Licht gesehen, dann eine heiße Druckwelle gespürt und

danach eine Erschütterung, die alles niederriss. Mary Jos, die blutend und verbrannt am Boden liegt, hat nur einen Gedanken: ihr Ehemann. »Ich

werde nicht sterben«, sagt sie sich.

In den sechzehn Minuten zwischen den beiden Terrorattacken hatten die Menschen im Südturm kaum Zeit, den Horror, den sie gegenüber sahen,

zu begreifen und eine Entscheidung zu treffen. Bevor das zweite Flugzeug einschlug, erzählen Überlebende später, fühlten sie sich in einer unbe-

haglichen Lage: Sie waren erleichtert über die Durchsagen, dass es in ihrem Gebäude sicherer sei als auf der Strasse, und fürchteten gleichzeitig, dass

das nicht stimmte. Sollten sie an ihren Schreibtischen sitzen, wenn gleich die Börse öffnete oder lieber doch unten schnell noch eine Tasse Kaffee

holen? Bei Keefe, Bruyette & Woods verliess fast die gesamte Investmentabteilung das Gebäude - und überlebte. Beinahe alle Börsenmakler aber

blieben - und starben.

Einer der Aktienhändler, Stephen Mulderry, ruft seinen Bruder Peter an und beschreibt das Feuer gegenüber im Nordturm. Dann blinkt sein Telefon.

Stephen sagt: »Ich muss Schluss machen - die Lichter blinken, der Markt öffnet gleich.« Rauf oder runter? Kurz bevor die United-Airlines-Maschine in

den Südturm stürzt, sind die Menschen in der Sky Lobby im 78. Stock hin- und hergerissen. Kelly Reyher betritt einen der langsamen Aufzüge, um

noch schnell sein elektronisches Notizbuch aus seinem Büro im 100. Stock bei der Aon Corporation zu holen. Judy Wein und Gigi Singer, auch bei

Aon beschäftigt, überlegen, ob sie hinauffahren soll, um im 103. Stock ihre Portemonnaies zu holen. Lasst das doch, sagt ihr Chef, Howard L.

Kestenbaum, und bietet an, ihnen das Geld für die Fahrkarte nach Hause vorzustrecken. Während einige ängstlich von ihren Lieben sprechen, zu

denen sie schnell heimfahren wollen, zeigen andere noch Sinn für Humor. »Aber ich habe doch ein Pferd und zwei Katzen«, witzelt Karen E. Hagerty,

als sie aus der Aufzugkabine gedrängt wird.

Im Augenblick des Einschlags wird es dunkel in der geschäftigen Lobby und totenstill. Einige wenige überleben, weil sie gerade in einer Nische lehnen.

Andere sterben, weil sie zögern, in den überfüllten Aufzug zu steigen. Als Judy Wein wieder zu sich kommt, ist ihr rechter Arm gebrochen, drei Rippen

sind angeknackst, und die rechte Lunge ist verletzt. Um sie herum liegen Menschen mit schrecklichen Verletzungen. Sie sind entweder bereits tot oder

liegen im Sterben. Judy Wein ruft nach ihrem Chef, Howard Kestenbaum. Als sie ihn findet, erzählt sie später, ist er ausdruckslos, reglos, stumm.

Karen Hagerty, die noch über ihre Katzen daheim gewitzelt hatte, gibt kein Lebenszeichen mehr von sich. Richard Gabrielle, ein weiterer Aon-Kollege,

liegt mit gebrochenen Beinen unter einer umgestürzten Marmorplatte. Judy Wein versucht, den Stein zu bewegen. Gabrielle schreit vor Schmerzen auf

und bittet sie aufzuhören.

»Jeder, der noch laufen kann, steht jetzt auf und geht.«Langsam kommt Bewegung in die Überlebenden. Judy Wein findet Vijayashanker Paramsothy

und Gigi Singer - beide haben keine lebensbedrohlichen Verletzungen. Kelly Reyher, der noch schnell nach oben fahren wollte, um seinen Palm Pilot

zu holen, stemmt die Fahrstuhltür auf und klemmt seine Aktentasche dazwischen. Er krabbelt aus dem brennenden Aufzug und findet Donna Spira

150 Meter entfernt. Ihr Arm ist gebrochen und ihr Haar ver-brannt, aber sie kann noch laufen.

Dann erscheint ein unbekannter Mann - er hat ein rotes Taschentuch vor Mund und Nase gebunden - und sucht einen Feuerlöscher. Judy Wein

erinnert sich später, wie der Mann zur Treppe zeigt und sagt: »Jeder, der noch laufen kann, steht jetzt auf und geht. Jeder, der anderen vielleicht

helfen kann, sucht Leute, die Hilfe brauchen. Und dann runter.« Sankara Velamuri und Diane Urban, Kollegen von Mary Jos, bleiben in der Sky Lobby,

um zwei schwer verletzten Bekannten, Dianne Gladstone und Yeshavant Tembe, zu helfen. Auch Mr. Paramsothy bleibt zurück. Alle fünf werden

sterben.

In den obersten Etagen staut sich der Rauch. »Etwa fünf Stock unterhalb des Dachs stehen rund 50 Leute und versuchen zu atmen, indem sie die

Nasen gegen die Fenster pressen«, berichtet ein Polizist vom Hubschrauber aus. Im Restaurant im 106. Stock drängen sich etwa 70 Menschen in der

Nähe der Fenster. »Alle anderen Räume sind voller Rauch«, schreibt Stuart Lee von Data Synapse in einer E-Mail an sein Büro in Greenwich Village.

»Jetzt gibt es gerade Streit, ob wir ein Fenster aufbrechen sollen. Zurzeit ist die Mehrheit dagegen.«

Im Konferenzraum im 104. Stock können die 50 Versammelten den Rauch eindämmen, indem sie ihre Anzugjacken in die Lüftungsschlitze stopfen.

Andrew Rosenberg erzählt seinem Golfpartner am Handy: »Wir haben Computer gegen die Fenster geschleudert, um Luft reinzulassen.« Danach

telefoniert Rosenberg mit seiner Frau. »Oh, mein Gott«, sagt er plötzlich, als in den Stockwerken über ihm Leute aus den Fenstern springen. Zu

diesem Zeitpunkt ist das Schicksal der Menschen in den Büros von Cantor Fitzgerald und im Restaurant Windows on the World besiegelt. Fast 900

kommen in den Etagen 101 bis 107 des Nordturms um. Mehr als ein Drittel der Opfer der Anschläge.

»Vorsicht, Ed!«, ruft Alayne Gentul. Ihr Kollege Edgar Emery ist vom Tisch gerutscht, auf den er geklettert war, um mit seinem Blazer ein Lüftungs-

loch zu stopfen. Alaynes Mann wird am Telefon Zeuge, wie die beiden leitenden Angestellten von Fiduciary Trust im 97. Stock versuchen, gegen den

beissenden Rauch anzukämpfen. Zu Beginn der Katastrophe hatten sie noch ihren Mitarbeitern geholfen, aus der Gefahrenzone zu fliehen.

»Wenn du die Chemotherapie geschafft hast, dann wirst du auch die Treppen schaffen«, ermunterte Emery eine erschöpfte Kollegin, während er eine

Gruppe zum Expresslift im 78. Stock führte. Dann eilte er wieder nach oben. Alayne Gentul hatte mit resolutem Auftreten (»Geht jetzt, und geht ge-

ordnet!«) mehreren Arbeitern aus dem 90. Stock das Leben gerettet. Zusammen mit Emery eilte sie dann in den 97. Stock, um sechs Kollegen aus der

Computerabteilung zu evakuieren.

Nun sind die beiden Helfer selbst gefangen. Das Letzte, was Elizabeth Emery hört, als sie mit ihrem Mann Edgar über Handy telefoniert, sind die

Schreie seiner Kollegin Alayne Gentul: »Wo ist die Treppe? Wo ist die Treppe?« Edmund McNally, Leiter der Technologieabteilung bei Fiduciary

Trust, telefoniert mit seiner Frau Liz, als plötzlich der Boden unter ihm nachgibt. McNally weist sie noch schnell auf die Policen seiner Lebensver-

sicherung hin. »Er sagte mir, dass ich ihm das Wichtigste auf der Welt sei und dass er mich liebt.« Sie dachte, dass dies bereits der Abschied für

immer war, erzählt Liz McNally. Doch dann klingelt ihr Telefon noch einmal. Etwas verlegen gesteht ihr Mann, dass er als Überraschung zu ihrem

40. Geburtstag eine gemeinsame Reise nach Rom gebucht hat. »Liz«, sagt er, »die Reise musst du stornieren.«

9.45 Uhr, Südturm, 105. Stock.

Noch 14 Minuten bis zum Einsturz

Für die Menschen in den oberen Stockwerken ist die Flucht zum Dach die naheliegendste Lösung. Im Februar 1993, als Terroristen eine Bombe im

Keller des Nordturmes gezündet hatten, waren etliche Menschen mit Polizeihubschraubern vom Dach des Gebäudes evakuiert worden. Dutzende

fliehen nun wieder nach oben - in eine Sackgasse. Frank Doyle, Börsenmakler bei Keefe, Bruyette & Woods, schafft es bis zur 105. Etage. Er ruft seine

Frau Kimmy Chedell an, um ihr noch zu sagen, dass er sie und die Kinder liebt. Später erinnert sie sich an seine Worte: »Ich bin zum Dach hochge-

laufen, aber die Türen sind abgeschlossen. Du musst die Notrufnummer 911 anrufen und ihnen sagen, dass wir in der Falle sitzen.«

Die Notrufzentrale weiß längst Bescheid. Schon um 9.27 Uhr hatte sich eine Gruppe vom nördlichen Konferenzraum im 105. Stock gemeldet.

Um 9.32 Uhr geht ein weiterer Notruf vom 105. Stock ein, mit der Bitte, die Tür zum Dach aufzuschließen. Um 9.38 Uhr ruft Kevin Cosgrove, ein

Brandwart der Firma Aon, an. Roko Camaj, ein Fensterputzer, meldet sich per Telefon bei seiner Frau: »Ich bin in der 105. Etage, hier sind mindestens

200 Menschen.« Er besitzt einen Schlüssel zum Dach. Aber dieser eine Schlüssel allein reicht nicht, um die Tür zu öffnen: Die Sicherheitsbeamten der

Kommandozentrale in der 22. Etage müssen zusätzlich einen Summer drücken. Doch die Kommandozentrale ist längst zerstört und geräumt.

Sean Rooney erreicht seine Frau Beverly Eckert. Er hatte erst versucht, nach unten zu laufen, war aber irgendwann nicht weitergekommen. Danach lief

er 30 Stockwerke nach oben. Nun steht er vor einer verschlossenen Dachtür. Er bittet Beverly anhand der Fernsehbilder genau zu beschreiben, wo das

Feuer ist. Er kann sich nicht erklären, warum das Dach abgeschlossen ist. Sie drängt ihn, es noch mal zu versuchen, während sie auf einer zweiten

Leitung den Notruf wählt. Er legt den Hörer hin und meldet sich wenige Minuten später zurück. Die Tür bewege sich nicht, sagt er, obwohl er darauf

rumhämmere.

»Mama«, fragt Jeffrey Nussbaum. »Was war das für eine Explosion?« Mehr als 20 Kilometer entfernt in Oceanside, New York, kann Arline Nussbaum

im Fernseher sehen, was ihr Sohn nicht sehen kann, obwohl er im 92. Stock des Nordturms nur 50 Meter entfernt ist, als das Unvorstellbare geschieht.

»Der andere Turm ist gerade zusammengestürzt«, erklärt Arline. Sie erinnert sich an seine letzten Worte: »Oh, mein Gott«, sagt Jeffrey. »Ich liebe dich.«

Dann bricht die Leitung zusammen. Der Nordturm, der 16 Minuten vor dem Südturm angegriffen wurde, steht noch. Aber auch sein Ende kündigt

sich an. Die Anrufe werden weniger, und immer mehr Menschen stürzen sich aus den Fenstern.

Jeffreys Firma, Carr Futures, befindet sich auf der 92. Etage, zwei Stockwerke unter der Einschlagstelle. Die Mitarbeiter, einige hatten sich an diesem

Morgen schon um 8 Uhr zu einer außerplanmäßigen Konferenz eingefunden, sind zunächst mit dem Schrecken davongekommen. Aber nun sitzen

40 Menschen in der Falle, die Türen haben sich verzogen und lassen sich nicht mehr öffnen.

Um 10.18 Uhr erreicht Tom McGinnis seine Frau Iliana. »Es sieht sehr, sehr schlimm aus«, sagt er. »Ich weiß«, sagt Iliana. »Es ist ganz schlecht für

unser Land; es sieht aus wie der dritte Weltkrieg.« Etwas am Ton ihres Mannes beunruhigt sie. »Bist du okay, ja oder nein?«, fragt sie. »Wir sind in

einem Zimmer im 92. Stock, und wir kommen nicht raus«, sagt Tom. »Ich liebe dich, kümmere dich um Caitlin.« Aber Iliana will keine Abschieds-

worte hören. »Verlier jetzt nicht die Ruhe«, sagt sie, »ihr Jungs wisst euch doch immer zu helfen. Ihr werdet da rauskommen.« »Begreifst du denn

nicht«, sagt Tom, »über uns springen Leute aus den Fenstern.«

Es ist 10.25 Uhr. Das Feuer nähert sich der Westseite des 92. Stocks. Noch ein letztes Mal sagt Tom Iliana, wie sehr er sie und ihre Tochter Caitlin liebt.

»Leg nicht auf«, fleht Iliana. »Ich muss runter auf den Boden«, antwortet Tom. Die Verbindung bricht ab. Es ist 10.26 Uhr, zwei Minuten bevor auch

dieser Turm in sich zusammenfällt. Das World Trade Center verstummt.

Never Forget   9/11 2001

102 Minuten Chaos, Panik, Glück und Tod

2001 - Terror in USA

vor 22 Jahren

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